Ausstellung im historischen Rathaus zum Weltalphabetisierungstag

„Auf dem Weg zur Arbeit weiß ich, dass ich hinter dem abgeknickten Baum rechts abbiegen muss. Mein nächster Orientierungspunkt ist eine grüne Bank“, erzählt ein Mann. Ein anderer gibt zu: „Wenn ich mit Freunden essen gehe, bestelle ich immer Schnitzel mit Pommes. Das gibt es überall und ich muss die Speisekarte nicht entziffern.“ So oder so ähnlich versuchen betroffene Menschen ihren Alltag zu meistern, denn sie können nicht richtig lesen und schreiben. „Ich stelle es mir schwierig vor, im Supermarkt einkaufen zu gehen, wenn man die Etiketten und Preisschilder nicht lesen kann“, stellt Andree Stein, Erster Beigeordneter der Verbandsgemeinde Montabaur fest.

Aber genau so sieht der Alltag von Menschen mit Lese- und Rechtschreibschwäche aus. Beipackzettel von Medikamenten, Hinweisschilder, Versicherungsverträge oder Schreiben von Behörden – jeden Tag gibt es zahlreiche Herausforderungen. 6,2 Mio. Menschen im Alter zwischen 16 und 64 Jahren sind in Deutschland davon betroffen. Weitere 10 Mio. sind nicht in der Lage, sich längere Texte zu erschließen. Die Gründe dafür sind vielfältig und haben nichts mit mangelnder Intelligenz oder mit Faulheit zu tun. Im Gegenteil – „die betroffenen Personen sind häufig sehr gut darin, Dinge auswendig zu lernen und entsprechende Strategien zu entwickeln, um im täglichen Leben zurecht zu kommen“, erzählt Caroline Albert-Woll, Leiterin der vhs. „Lesen und Schreiben muss man aktiv erlernen wie ein Musikinstrument oder eine Fremdsprache. Es geschieht nicht automatisch wie beispielsweise das Sprechen oder Laufen lernen“, erläutert sie. Wer als Kind länger krank war, schlecht hören kann oder aus anderen Gründen in der Schule den Anschluss verpasst, hat es schwer, das Versäumte aufzuholen. „Unser Schulsystem ist darauf auch gar nicht ausgelegt“, erläutert Alexandra Tschetsche von der Kreis-Volkshochschule Westerwald. „Im Unterricht wird fortwährend aufeinander aufgebaut, fehlende Teile werden in der Regel nicht nachgeholt oder erneut geschult.“ Kommt dann noch wenig Unterstützung aus dem Elternhaus hinzu oder es fehlt die fortwährende Übung, ist der Grundstein für die Lese- und Schreibschwäche schon gelegt.

Die Ausstellung im historischen Rathaus zeigt nicht nur das Problem, sondern auch konkrete Beispiele und Lösungsmöglichkeiten auf. „Der wichtigste Schritt ist, es in Angriff zu nehmen“, motiviert Julia Gorte von Grubi-Netz. In den angebotenen Kursen der vhs wird individuell auf die Teilnehmer eingegangen und man kann jederzeit einsteigen.

Dass sich der Schritt lohnt, dafür gibt es viele Beispiele. Ein besonders schönes ist ein Teilnehmer, der heute selbst unterrichtet und Menschen hilft, den gleichen Weg zu gehen wie er selbst. „Schauen Sie sich die Ausstellung an“, motiviert Stein. „Und scheuen Sie sich nicht, nach unseren Angeboten zu fragen“, ergänzt Albert-Woll. „Wir freuen uns über jeden, der den Mut hat, das Thema anzugehen und sein Leben ein Stückchen leichter zu machen.“

Die Ausstellung kann noch bis zum 16. September in der Bürgerhalle im historischen Rathaus in Montabaur besucht werden. Weitere Unterstützung – auch für Angehörige -  gibt es am ALFA-Telefon unter 0800 – 53 33 44 55 oder bei der VHS Montabaur, Tel. 02602 / 126-321, der KVHS des Westerwaldkreises Tel. 02602 / 124-420 oder vhs-montabaur.de bzw. vhs-ww.de