Erinnerung, die bleibt

Zur Erinnerung an Alfred „Freddy“ Stern (1925 - 2020) ist seine Familie jetzt extra aus England nach Montabaur gereist. Am Stolperstein in der Bahnhofstraße 24, vor dem ehemaligen Wohnhaus der Familie, fand eine bewegende Gedenkfeier statt. Drei weiße Rosen wurden niedergelegt – am ersten Stolperstein in Montabaur, der nicht einem NS-Opfer, sondern einem Überlebenden gewidmet ist. Freddy Stern gelang als Kind die Flucht nach England.

Drei Stolpersteine mit gravierten Namen und Lebensdaten sind in das Pflaster eingelassen, daneben liegen drei weiße Rosensträuße als Zeichen des Gedenkens.
Drei weiße Rosen wurden an den Stolpersteinen der Familie Stern niedergelegt. Die Enkelkinder Marnie (7), Koby (9) und Ethan (13) ergänzten drei blaue Herzen zum Andenken an ihren Urgroßvater.

„Nur wer seine Geschichte kennt, kann gute Zukunft gestalten“, sagte Stadtbürgermeisterin Melanie Leicher in ihrer Ansprache. Freddy Stern lebte mit seinen Eltern Betty und Willi in der Bahnhofstraße 24, wo sie ein angesehenes Lederwarengeschäft führten. Die Familie war in Montabaur gesellschaftlich verwurzelt, engagierte sich in Vereinen und kommunalpolitisch.

Das Schicksal der Familie Stern in der Reichspogromnacht

Am 9. November 1938 wurde Willi Stern verhaftet und ins Konzentrationslager Buchenwald verschleppt. Dort wurde er gefoltert und unter Zwang zum Verkauf seines Geschäftshauses gedrängt. Im Dezember wurde er entlassen. Betty Stern wurde in derselben Nacht gemeinsam mit anderen jüdischen Frauen und Kindern aus Montabaur in das katholische Zentrum Kirchähr im Gelbachtal gebracht und dort über Nacht festgehalten.

Der damals 13-jährige Freddy besuchte zu dieser Zeit ein jüdisches Internat in Bad Nauheim, das in jener Nacht von SA-Männern angezündet wurde. Freddy gelang die Flucht – alleine machte er sich auf den Weg zu seinen Großeltern nach Herborn.

Im März 1939 konnten seine Eltern ihn in einem Kindertransport unterbringen. Der britische Innenminister hatte damals die Aufnahme von 10.000 jüdischen Kindern aus Deutschland, Österreich und dem Sudetengebiet ermöglicht. Es war das letzte Mal, dass Freddy seine Eltern sah. 1942 wurden Betty und Willi Stern sowie seine Großeltern deportiert und ermordet.

Eine große gemischte Gruppe von Menschen steht für ein Gruppenfoto vor einem Gebäude mit der Aufschrift „V+V Westerwald“, einige halten Blumen.
Am ehemaligen Wohnort der Familie Stern in der Montabaurer Bahnhofstraße 24 fand die Gedenkfeier statt. Dafür waren Gerald Stern und seine Familie eigens aus England angereist.


Aufbau eines neuen Lebens in England

Ein Mann in blauem Sakko und Sonnenbrille spricht gestikulierend vor einer Gruppe von Zuhörern auf einem Gehweg, während die anderen aufmerksam zuhören.
„Wir hegen keinen Groll gegen Deutschland. Die heutige Generation kann nichts für das, was damals passiert ist“, bedankte sich Gerald Stern für die Würdigung des Schicksals seiner Familie.

Nach seiner Ankunft in Southampton besuchte Freddy zunächst eine jüdische Schule in Cliftonville, im Südosten Englands. Nach Kriegsausbruch wurde die Schule evakuiert, Freddy kam bei Verwandten in London unter. Dort begann er eine Lehre in einer optischen Werkstatt und arbeitete später als Mechaniker für Militärfahrzeuge in Shrewsbury.

Nach dem Krieg kehrte er zu seinen Verwandten in London zurück, studierte Kunststofftechnologie und war beruflich in Forschung und Entwicklung tätig. Später gründete er ein eigenes Unternehmen und baute sich ein neues Leben auf. Freddy wurde Familienvater und Großvater – ein liebevoller, geschätzter Mensch. Doch die Angst verließ ihn nie: Zeit seines Lebens bewahrte er einen gepackten Fluchtkoffer unter dem Bett auf – Symbol seiner tiefen Prägung durch die Jahre der Bedrohung.

Gerald Stern hält die Erinnerung wach

Freddy Stern starb 2020. Deutschland und sein Elternhaus hat er nie wieder betreten. Umso wichtiger ist es seinem Sohn Gerald, die Erinnerung an die traumatischen Erlebnisse wachzuhalten – damit sie sich nicht wiederholen. Gerald Stern engagierte sich maßgeblich für das jüdische Mahnmal, das 2013 vor dem historischen Rathaus Montabaurs errichtet wurde, und war Mitinitiator der Stolperstein-Verlegung. Zwei Steine in der Bahnhofstraße erinnern an Freddys Eltern Betty und Willi – einer nun auch an Freddy selbst. Er ist der erste Stolperstein in Montabaur, der einem Überlebenden gewidmet ist – als Zeichen der Hoffnung.

Ein älterer Mann mit gemustertem Hemd und Brille sitzt lächelnd neben einem Mann im weißen Hemd und Krawatte, der ein Selfie auf einer Terrasse aufnimmt.
Erinnerungsfoto: Gerald Stern (rechts) mit seinem Vater Freddy Stern, der 2020 verstarb.

Die Geschichte von Freddy Stern soll Mut machen. Gerald möchte, dass seine Nachkommen erfahren, wo ihre Wurzeln liegen. Deshalb hat er die Lebensgeschichte seines Vaters in einem Buch niedergeschrieben. Es wurde nicht veröffentlicht, kann jedoch im Stadtarchiv eingesehen werden.

Zur Gedenkfeier am Stolperstein kamen zahlreiche Familienangehörige aus Großbritannien nach Montabaur – darunter Gerald, seine Schwester Betty, Freddys Ehefrau Monica sowie Kinder und Enkelkinder. „Wir hegen keinen Groll gegen Deutschland. Die heutige Generation trägt keine Schuld“, erklärten sie übereinstimmend. „Wir sind dankbar für die Anerkennung und Wertschätzung, die uns hier entgegengebracht wird.“ Trotzdem haben Freddys Erzählungen tiefe Spuren hinterlassen – Tränen flossen bei der Schweigeminute und dem musikalischen Beitrag von Annika Leicher.

Gedenken an den letzten Holocaust-Überlebenden Montabaurs

Stadtbürgermeisterin Melanie Leicher zeigte sich tief bewegt vom Schicksal der Familie Stern. „Freddy Stern ist in vielerlei Hinsicht ein Vorbild. Das Gedenken an ihn soll in Montabaur lebendig bleiben.“ Zusammen mit dem Ersten Beigeordneten der Verbandsgemeinde Montabaur, Andree Stein, und Stadtarchivar Dennis Röhrig legte sie drei weiße Rosen nieder. „Die Stolpersteine sind ein Zeichen der Erinnerung, aber auch der Verantwortung. Wir sehen hin. Wir vergessen nicht. Unsere Verantwortung endet nicht mit dem Gedenken – sie beginnt dort.“

 

Stolpersteine und drei weiße Rosen
Stolpersteine erinnern an Opfer des Nationalsozialismus. Die 96 x 96 x 100 mm großen Messingplatten sind in Beton gegossen und werden vor den letzten frei gewählten Wohnorten der Opfer verlegt. Der Künstler Gunter Demnig hatte die Idee dazu 1992/93. Ein dreizehnköpfiges Team recherchiert seither sorgfältig die Lebensgeschichten und sorgt für eine würdevolle Verlegung. Die Steine werden von Hand gefertigt und geben den Opfern durch ihren Namen und ihre Geschichte einen Platz in der Mitte der Gesellschaft zurück.
Drei weiße Rosen symbolisieren die Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ um Hans und Sophie Scholl und Christoph Probst. Die Studierenden riefen in Flugblättern zum zivilen Widerstand gegen das NS-Regime auf und prangerten dessen Verbrechen an. Sie wurden 1943 zum Tode verurteilt und hingerichtet.


Drei Personen stehen vor einer Gedenkstele mit eingravierten Davidsternen und Namen, an einer roten Backsteinmauer mit gotischen Fenstern und einem blauen Straßenschild „10, Großer Markt“.
Gerald Stern und Schwester Betty (rechts) gedenken gemeinsam mit Stadtbürgermeisterin Melanie Leicher der Opfer des NS-Regimes in Montabaur. Gerald Stern setzte sich mehrere Jahre für das jüdische Mahnmal ein, das 2013 vor dem historischen Rathaus errichtet wurde.

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